Die Röte stieg ihm ins Gesicht. Er wollte nur noch weg. Doch seine Freundin verstand es nicht. Sie wollte sofort eine Erklärung. Doch die konnte er ihr nicht geben. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er keine hatte. Ihm fiel schlichtweg keine Erklärung ein. Wieder hatte er vergessen den Müll runter zu bringen.
Ihr Tag war ohnehin schon anstrengend. Sie kam nach Hause und wollte einfach nur einen entspannten Abend verbringen. Und dann sieht sie, dass er mal wieder vergessen hat den Müll runter zu bringen. Er hatte es doch versprochen. Doch wieder hat er es vergessen. Sie fühlte sich mal wieder nicht gesehen. Sie fühlte sich in ihren Bedürfnissen beschnitten. Sie nannte ihn einen Versager. Eigentlich wollte sie das nicht. Aber es rutschte ihr so raus.
Es kam ihm vor, wie ein Dejavü. Schon als Kind bekam er ständig Einläufe verpasst, wenn er mal etwas nicht sofort erledigte. Das schlimmste aber war für ihn die Erkenntnis tatsächlich versagt zu haben. Zumindest fühlte sich das so an. Auch er hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Bei der letzten Beförderung wurde er mal wieder übergangen.
Und jetzt nannte ihn seine Freundin einen Versager.
Er schämte sich zutiefst. Ihm versagte die Stimme. Er wollte nur noch weg. Er konnte gerade nicht reden. Er war re- traumatisiert. Und es war ihm nicht möglich in dieser Situation auch nur ein Wort mit ihr zu reden.
Jetzt geht das schon wieder los, dachte sie nur. Bestimmt wird er wieder drei Tage nicht mit mir reden. Sie kannte es aus vorangegangenen Situationen. Er vergaß etwas. Sie sagte etwas dazu und anstatt sich zu entschuldigen, bestrafte er sie mit Schweigen. Im Internet kursiert dazu der Begriff des Silent Treatment. Schweigen als Strafe. Schweigen als Missbrauch. Und sie ergab sich in ihrer eigenen Rolle. Schon als Kind war es so, dass immer wenn sie aufmüpfig wurde und ihrem strengen Vater mal wieder wiedersprach, dass dieser tagelang kein Wort mit ihr wechselte. Auch ihren Vater nannte sie Versager. Und generell sollten sich Männer ihrer Meinung nach nicht so anstellen. Das wäre überhaupt nicht männlich. Sie brauchte aber auch immer sofort eine Reaktion. Lieber wäre es ihr, ihr Mann würde sie anschreien oder irgendeine andere emotionale Regung zeigen. Doch er schwieg sich aus und verkroch sich.
Er wollte den Müll wirklich runter bringen. Aber als er nach Hause kam, wollte er sich auch nur entspannen. Er wollte sich nur ein wenig Zeit für sich selbst nehmen, runter fahren damit er sich in der Lage fühlt diesen schönen Abend mit seiner Freundin zu verbringen. Jetzt hatte er keine Lust mehr. In Ihren Augen war er ein Versager. Und der Schmerz saß tief. Er schämte sich. Schon als Kind wurde ihm nicht gestattet, sich Zeit für sich zu nehmen. Schon als Kind war er ständig den hohen Erwartungen seiner Eltern ausgesetzt. Er hatte zu funktionieren. Und wenn er mal nicht so agierte, wie seine Eltern es erwarteten, bekam er Vorwürfe. Sie nannten ihn einen Versager.
Auch in der Schule spürte er diese enormen Ängste. Er war eher ein Außenseiter. Beim Sport wurde er bei der Mannschaftswahl auch meistens als einer der Letzten zugeteilt. Wenn seine Mannschaft dann verlor, fühlte er sich den Blicken seiner Mitschüler ausgesetzt. Er fühlte sich schuldig. Und er glaubte es nicht, es überhaupt mal zu schaffen, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Die Angst zu versagen, war sein ständiger Begleiter. Und er schämte sich total. Darüber reden konnte er nicht. Sein Umfeld schien ihn nicht zu sehen.
Als er dann endlich Sharon kennen lernte, war es um ihn geschehen. Sie hatte ihn gesehen und er wollte um jeden Preis ihr Herz gewinnen. Sie sah ihn so, wie er war, so schien es. Sie wusste seine Stärken zu würdigen. Zumindest nahm er das so wahr. Sein Bild von ihr glich der einer Königin. Und seine Aufgabe wäre es, ihr Herz zu erobern und sie glücklich zu machen. Er überhäufte sie mit Komplimenten und Geschenken. Er war verliebt bis über beide Ohren.
Sie kennt es aus vergangenen Tagen. Immer wenn er dieses Spielchen mit ihr spielte, also längere Zeit nicht mit ihr sprach, kam er wie Phönix aus der Asche zurück in ihr gemeinsames Leben, oft mit Blumen und Reuebekundungen. Sie konnte ihm schon lange nicht mehr glauben. Für ihn war das was er tat hoch manipulativ. Erst Silent Treatment, und als Wiedergutmachung Love Bombing.
Als Sie ihn kennen lernte, war sie frisch getrennt. Ihr Ex hatte ständig was an ihr auszusetzen. Nichts schien sie ihm recht machen zu können. Dabei gab sie sich so viel Mühe. Sie war eigentlich beziehungsmüde. Doch dann lernte sie Ronald kennen. Ronald war sehr aufmerksam zu ihr und behandelte sie mit Respekt. Sie fühlte sich von ihm zum aller ersten Mal in ihrem Leben so gesehen, wie sie sich selbst sah. Er tröstete sie und machte ihr viele Komplimente. Anfangs kam ihr das etwas komisch vor. Sie kannte es nicht. Ihre Eltern lobten sie nur selten. Irgendwann gewöhnte sie sich daran. Und dann freute sie sich auch über seine vielen Geschenke.
Er saß in seinem Zimmer. Er schämte sich total. Er hatte vergessen den Müll runter zu bringen. Er war in ihren Augen zurecht ein Versager, das dachte er nämlich auch über sich selbst. Und er brauchte sehr lange Zeit um diese Scharte für sich zu verarbeiten. Er wollte alleine sein. Er war es nicht anders gewöhnt. Früher machte er notgedrungen alles mit sich selber aus. Das war seine Konditionierung. Probleme regelt man alleine. Tut man das öffentlich wird man eh nur als Versager betitelt oder mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert.
Wenn er sich dann beruhigt hatte, überkam ihn diese große Traurigkeit und gleichzeitig auch die Verlustangst. Und er kannte es von früher, dass wenn man was verbockt hat, dass das Umfeld eine Wiedergutmachung erwartet. Und er überlegte was er tun könnte, damit sie nicht mehr böse auf ihn sei. Er wollte sie auf keinen Fall verlieren.
Doch dieses mal reichte es ihr. Sie wollte sich nicht schon wieder mit Blumen, Pralinen oder Komplimenten einlullen lassen. Es würde sich ja eh nichts ändern. Dann sie stellte ihm folgende Frage:
„Sag mal schämst du dich nicht?“