Immer wieder erhalte ich Anfragen von Frauen und auch Männern, die damit nicht fertig werden, dass ihre Kinder sich abnabeln, radikal abgrenzen oder gar den Kontakt abbrechen. Nicht selten werden die neuen Partner verantwortlich gemacht. Der neueste Trend aber ist zu sagen: „Mein Sohn/ meine Tochter ist eine Narzisstin, nicht einmal die Enkelkinder darf ich sehen„. Für mich passt diese Entwicklung zwar in unsere Zeit. Jedoch möchte ich dieser gern entgegensteuern. Ob es sich bei diesen Anfragen um den letzten Strohhalm handelt, die zerrüttete Familie wieder zusammen zu führen oder ob narzisstische Eltern am Werk sind, soll dieser Artikel erklären.
Narzisstische Eltern: Der Fisch stinkt immer am Kopf
Der Fisch beginnt immer, am Kopf zu stinken. Dieser Spruch ist dir sicherlich geläufig. Und oft trifft dieser zu. Kinder lernen am Modell ihrer Eltern. Die erste Frau – Erfahrung macht das Kind mit der Mutter. Die erste Mann – Erfahrung mit dem Vater. Auch die erste Beziehungserfahrung zwischen Mann und Frau erlebt das Kind zwischen Vater und Mutter.
Ist die Ehe der Eltern verkorkst, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass zumindest ein Teil davon beim Kind hängen bleibt. Frühkindliche Traumatisierung, Binduntsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen – alles Erkrankungen die nicht nur vererbbar sind, sondern auch eine Folge von sekundärer Traumatisierung, d.h. wenn das Kind Beziehungsgewalt zwischen Mutter und Vater miterlebt.
Der Narzissmus der Eltern ist selten offensichtlich
Unter dem Mantel der Gutmütigkeit „Ich mein es doch nur gut!“ übertragen narzisstische Eltern unbewusst ihre größtenteils überzogenen Anspruchshaltungen aufs Kind. Hauptsache, das Kind ist gut in der Schule und macht Mama oder Papa keine Schande. Emotionale Nähe und Liebe gibt es nur im Tausch gegen Leistung oder Gehorsam. Nicht selten werden Kinder geboren, um eigene narzisstische Verletzungen zu kompensieren.
Nicht selten sind narzisstische Eltern selbst Opfer narzisstischer Eltern. Oder sie wuchsen in Heimen auf, in denen sexueller Missbrauch mit Nächsteliebe gleichgesetzt wurde. Auch die Zugehörigkeit in Sekten oder fanatische Weltanschauen schaden einer gesunden Entwicklung. Oder eigene vermittelte Werte, die nicht reflektiert werden und ungefiltert weiter gegeben werden. Dem sind sich viele Eltern oft nicht bewusst. Wie schon beschrieben: Viele (narzisstische) Eltern meinen es in der Tat wirklich nur gut. In ihrer Wahrenehmung geben sie stets ihr Bestes – aber eben nur in ihrer Wahrnehmung.
Unterschiedliche Perspektiven
Die Wahrnehmungen eines traumatisierten Kindes und der Eltern, die das unbewusst entstandene Trauma nicht erkennen oder anerkennen wollen, weichen erheblich voneinander ab. Jeder Mensch besteht nunmal auf seine eigene Wahrheit oder eben auf die Absicht, sich selbst nur zu schützen, es so gelernt zu haben und daher im Recht zu sein. Dem kann ich persönlich nur entgegen bringen:
Jeder hat ein Recht auf seine eigene Wahrheit. Aber dann heißt es auch wirklich für mich Jeder.
Jedes Kind, das an sich selbst denkt, sich verändert, sich abgrenzt oder seine Komfortzone verlässt, ist ein Narzisst. Jeder Heranwachsende der sich aufmacht zu neuen Ufern, sich also weiter entwickelt, ist ein Querulant oder Störenfried. Oder aber das Kind wird enterbt, weil es anfängt, den Eltern zu widersprechen.
Um dies zu behaupten bedarf es keinem Psychologiestudium. Mutter oder Vater sein, reicht dafür schon aus.
Jedoch scheint es mir so, als gelte das nicht für jeden. Bei allem Bewusstsein und allen Berichten über Narzissmus. Narzissten sind generell die anderen. Jeder, der eine andere Meinung hat, die einen triggert, ist automatisch ein Narzisst.
Bewältigungsstrategien des erwachsenen Kindes
Für das irgendwann erwachsene Kind bleibt als Möglichkeit oft nur, sich mit der Situation abzufinden und therapeutische Unterstützung zur Heilung der Wunden zu suchen. Oder eben sich abzugrenzen und dann mit dem Vorwurf konfrontiert zu sein, ein Narzisst zu sein.
Mütter beschuldigen ihre Töchter oder Schwiegersöhne, Väter gerne ihre Söhne oder Schwiedergertöchter. Doch so einfach ist das meistens nicht. Oder etwa doch?
Narzisstische Eltern erkennen
Ein bekanntes Beispiel dafür ist die „Eislaufmutter“, die von ihrer Tochter erwartet, unfassbar erfolgreich zu sein und im Rampenlicht zu glänzen. Sie strebt danach, selbst auch im Mittelpunkt dieser Aufmerksamkeit zu stehen und die Anerkennung sowie Bewunderung einzufordern. Eine andere Form des Verhaltens ist das genaue Gegenteil: Narzisstische Eltern bemühen sich darum, ihre Kinder systematisch kleinzuhalten, zu entwerten und zu manipulieren. Ihr Motto lautet dabei: „Mein Kind darf mich nicht übertreffen oder überstrahlen.“
Elterlicher Narzissmus und die Auswirkungen
Narzisstische Eltern zeichnen sich oft durch ein dominantes und egozentrisches Verhalten aus, das sich auf ihre Kinder auswirkt. Sie neigen dazu, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche über die ihrer Kinder zu stellen und erwarten uneingeschränkte Bewunderung und Aufmerksamkeit. Diese Eltern haben oft unrealistische Erwartungen an ihre Kinder und verwenden sie häufig als Verlängerung ihres eigenen Selbstwerts.
Kinder solcher Eltern wachsen dann oft auf mit folgenden Glaubenssätzen:
- „Ich bin nicht gut genug.“
- „Ich bin nicht liebenswert.“
- „Meine Bedürfnisse sind nicht wichtig.“
- „Ich bin für das Glück anderer verantwortlich.“
Später dann wird jedes narzisstische Elternteil hartnäckig darauf bestehen, alles richtig gemacht zu haben oder zumindest dem Kind keinen Schaden zugefügt zu haben. Es wird betonen, alles für das Kind getan zu haben und erwarten, dass es Dankbarkeit zeigt. Ein „Ich mein es doch nur gut!“ soll endlich gesehen und anerkannt werden. Das Kind wird innerlich dazu verdonnert, sich für immer mit den Eltern verbunden zu fühlen.
Und wenn es sich abgrenzt, wird der Spieß umgedreht. Dann ist das Kind auf einmal der Narzisst.
Einschränkung der Autonomie
Sämtliche Autonomiebestrebungen des Kindes werden bereits früh in der Kindheit im Keim erstickt, unterdrückt, bestraft und mit Schuldgefühlen beladen. Außer, wenn sie den Bedürfnissen der Eltern dienen. Abweichungen von den mütterlichen Erwartungen werden als Verrat empfunden, Abweichungen von der väterlichen Erwartungen als Ungehorsam und Respektlosigkeit.
Auch später im Erwachsenenalter noch, was dann ja wiederrum die Erklärung dafür ist, dass viele narzisstische Eltern ihre Kinder verdächtigen, narzisstisch zu sein. Denn die Attribute, die gekränkte Eltern ihren Kindern zuschreiben, sind nunmal die, die laut Internet für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sprechen.
Kinder narzisstischer Eltern leiden oft unter einem geringen Selbstwertgefühl, Angstzuständen, Depressionen und einem Gefühl der Unzulänglichkeit. Sie können Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu vertreten, da sie gelernt haben, sich immer nach den Bedürfnissen ihrer Eltern zu richten.
Kontrolle und Machtkämpfe
Nicht selten entsteht ein Machtkampf. Nicht nur über das Verhalten des Kindes, sondern auch über seine Gefühle und Gedanken oder die Erziehungsfähigkeit. Die Enkelkinder werden zum Spielball der Gekränkten, verlassenen oder zum Inhalt meines Kontaktformulars.
Narzisstische Eltern glauben, das Kind besser zu kennen, als es sich selbst. Demnach wissen sie auch deutlich besser, was es in Sachen Kindeserziehung zu wissen gibt. Sie fragen ,was man tun kann, um das Kind umzudrehen, zu überzeugen – oder sie betteln um Bestätigung von mir, dass ich ihre Ferndiagnose bestätige: Nicht wir Eltern sind narzisstisch, sondern mein Kind ist es, dieses undankbare Balg.
Schwierigkeiten mit Beziehungen
Das erwachsene Kind wird dazu gedrängt, sein authentisches Selbst zugunsten der narzisstischen Eltern aufzugeben. Und nicht selten gibt das mittlerweile erwachsene Kind nach. Es zweifelt an der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Im Laufe der Zeit entwickelt es ein „falsches Selbst“, das den Erwartungen der Eltern entspricht. Und kein anderer Mann oder keine andere Tochter kann es solchen Eltern recht machen.
Die Grundüberzeugung des Kindes, dass es in Beziehungen keinen Platz für ein Ich gibt, führt zu Schwierigkeiten in der Entwicklung gesunder Bindungen. Liebe und Bindung werden mit Manipulation und Kontrolle assoziiert, was das Zulassen von Nähe und Intimität erschwert und gleichzeitig das Risiko um ein Vielfaches erhöht, selbst in eine toxische Beziehung zu geraten.
Immerin aber wird die narzisstische Mutter dann in ihrer These bestätigt: „Mein Kind oder der Partner/die Partnerin meines Kindes ist der Narzisst und nicht ich.“ Und auch der narzisstischte Vater atmet auf: „Es ist nicht meine Schuld!“
© Daniel Brodersen