Wenn Menschen plötzlich anfangen zu schweigen: Ist es gleich immer Missbrauch?

Schweigen wird in oder nach Konflikten oft als Silent Treatment verstanden. Niemand mag angeschwiegen werden, wenn er der Meinung ist, dass das Gegenüber einem eine Erklärung schuldet. Ganz zu Schweigen lässt häufig blöde Kindheitserinnerungen wach werden. Schweigen kann als Silent Treatment verstanden werden, als Strafe, und dann auch als Missbrauch. Aber ist Schweigen nach Konflikten tatsächlich immer ein Missbrauch? Ist es immer gleich als Strafe zu verstehen, wenn nichts sofort erwiedrt wird. Und muss man immer etwas sagen? Muss man immer sofort antworten, wenn einem gerade nicht danach ist? Eher nicht. Das heißt also: Schweigen ist nicht bloß Missbrauch. Aber was ist es dann? Und Darüber möchte ich in diesem Artikel aufklären.

Schweigen hat viele Gründe
Wenn Menschen plötzlich anfangen zu schweigen

Schweigen ist nicht bloß Missbrauch, sondern auch eine Folge von Missbrauch

1968 wurde ein Gesetz verabschiedet. Das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten Gesetz, auch Dreher-Gesetz genannt. Das ermöglichte dass viele Kriegsverbrecher und Nazis nicht mehr bestraft werden konnten. Sie wurden größtenteils als Mordgehilfen also Totschläger eingestuft. Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Deswegen können Menschen, die früher barbarische Taten begingen nicht mehr bestraft werden. Das Gesetz schützt sie. Die Opfer jedoch wurden und werden nach wie vor verhöhnt.

Der Schaden ist immens, eine ganze Gesellschaft lebte und lebt immer noch unter Selbstverdacht. Ja manche Menschen fühlen sich schuldig. Sie tragen das, was ihre Vorfahren taten teilweise noch in sich. Und aus Scham reden sie nicht darüber. Aus Scham schweigen sie lieber mit der Hoffnung, dass es irgendwann vergessen wird.

Das ominöse Schweigen ist transgenerational

Wie bewiesen wurde, werden sätmliche Prägungen, Macken oder Muster über die Gene weiter vererbt. Das heißt die stressbedingten Veränderungen, die in (komplex-) posttraumatischen Belastungsstörungen, Paranoia oder Persönlichkeitsstörungen münden, sind durchaus erklärbar. Sie wurden vererbt. Bei manchen mehr, bei manchen weniger.

Nicht umsonst sagt man, dass wir immer noch in der Nachkriegszeit leben, wir also alle Kriegsenkel, Kriegsurenkel oder Kriegsururenkel sind. Epigenetisch ist ebenso bewiesen, dass jeder Mensch mit unterschiedlichen Temperamentseigenschaften und Veranlagungen die Erde betritt. Der eine ist stiller, der andere lauter. Manche Schweigen, die anderen zeigen sich, bunt, lebendig und farbenfroh.

Jedoch hatte das Schweigen früher eher eine Schamvermeidende und damit schützende Funktion.

Cheerless silent man sitting apart from his wife
Jeder schweigt anders

Dazu passt dann auch das Zitat von Hape Kerkeling in seiner Biografie „Der Junge muss an die frische Luft“.

Depressionen haben leider auch in den frühen 1970er Jahren noch den alten Beigeschmack von „Minderwertigkeit“, „geistiger Behinderung“ und „Irresein“. Über so etwas spricht man nicht. Das hat es nicht zu geben.

Ich wage zu behaupten, dass meine Mutter durch die muffigen gesellschaftlichen Zustände im Nachkriegsdeutschland in gewisser Weise zu einem späten Opfer der Nazidiktatur geworden ist. Schon 10 Jahre später, Mitte der 1980er Jahre, hätte die Leidensgeschichte meiner Mutter vielleicht eine gute Wendung nehmen können.

Verschleiern, Verdecken und Verdrängen ist eine aus dem Schock über die Nazizeit resultierende Verhaltensweise, die auch meine Generation noch stark geprägt hat.

Darüber redet man nicht- diesen Satz haben vermutlich viele Kinder meines Jahrgangs schon öfters gehört oder gedacht. Dieses seltsame und schädliche Credo des Verschweigens ist in vielen deutschen Familien als gruselige Spätfolge der Schrecken der Nazizeit sogar bis zum heutigen Tage noch seltsam fest verankert.

Heute wissen wir: Man kann und muss in angemessener Form über alles reden.

Die Kultur der allgemeinen Verleugnung offensichtlicher Wahrheiten wirkt auch noch heute in Teilen der Gesellschaft und an verantwortlicher Stelle weiter. Sie sorgt dafür, dass ein ungutes und vermutlich unbewusstes „Terrortrauma“ oder „Kriegstrauma“ in unserer modernen Gesellschaft erhalten bleibt“.

Schweigen als Traumafolge oder in Folge von Krankheit

Jedoch kann dieses „beharrliche Schweigen“ auch katatonisch sein. Dieses beharrliche Schweigen kann also auch eine Folge des eigenen seelischen Missbrauchs sein, der früher mal erlebt wurde und jetzt situativ getriggert wird, gerade bei enormen Stress und belastenden Ereignissen. Die Auslöser können dabei sehr minimal sein und kaum wahrnehmbar in Erscheinung treten.

Katatonie äußert sich in unnatürlichen und stark verkrampften Haltungen bzw. Verhaltensweisen des ganzen Körpers bzw. der Person. Es wird dabei zwischen hypokinetischen [„hypo…“ = ein Weniger, ein Zuwenig an …] und hyperkinetischen [„hyper…“ = ein Mehr, ein Zuviel an …] unterschieden.

  • Stupor (Starre des ganzen Leibes)
  • Mutismus (beharrliches Schweigen)
  • bizarre Haltungsstereotypien (längeres Verharren in einer Körperhaltung auch bei äußeren Versuchen der Veränderung)
  • Flexibilitas cerea (wachsartiger Widerstand der Muskulatur bei passiver Bewegung)
  • Negativismus (Widerstand gegenüber allen Aufforderungen oder Versuchen, sich zu bewegen – oder stattdessen Bewegungen, die das Gegenteil der Aufforderung ausführen)
  • Katalepsie (Beibehaltung der Körperstellung nach passiver Bewegung)
  • sehr erhöhte psychomotorische Erregung
  • Bewegungs- und Sprachstereotypen (dauerndes und scheinbar sinnfreies Wiederholen von Bewegungen oder von Sprachanteilen ohne äußeres „Vorbild“)
  • Echopraxie/Echolalie (dauerndes und scheinbar sinnfreies Nachahmen von Bewegungen oder von Sprachanteilen)
  • Manierismen (sonderbare, „karikaturhafte“ Darstellung alltäglicher Gestik, Mimik).

Die Krankheitsvariante kann unter anderem aufgrund einer fehlenden Wasser- und Nahrungsaufnahme lebensbedrohlich sein.

Die Motive fürs stille Verweilen können unterschiedlich sein

In der Tat gibt es Gründe dafür, die nicht unterschiedlicher sein können, als man annehmen könnte.
Menschen können aus verschiedenen Gründen schweigsam sein, und die Motivationen dafür können stark variieren. Hier sind einige häufige Gründe, warum Menschen gelegentlich schweigen:

  1. Reflexion und Nachdenken: Manchmal schweigen Menschen, um Zeit für ihre Gedanken zu haben. Sie reflektieren über etwas oder denken intensiv nach, bevor sie sich äußern.
  2. Scham oder Unsicherheit: Menschen können schweigen, wenn sie sich schämen oder unsicher fühlen. Sie sind möglicherweise besorgt über die Reaktion anderer oder haben Angst vor negativem Feedback.
  3. Verarbeitung von Emotionen: In emotional belastenden Situationen kann das Schweigen eine Schutzreaktion sein. Menschen nehmen sich Zeit, um ihre Emotionen zu verarbeiten, bevor sie sprechen.
  4. Kommunikationsstil: Einige Menschen sind von Natur aus zurückhaltender oder introvertierter und bevorzugen es, in bestimmten Situationen zu schweigen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
  5. Konfliktvermeidung: Schweigen kann auch eine Strategie zur Vermeidung von Konflikten sein. Menschen wählen möglicherweise das Schweigen, um Konfrontationen zu entgehen oder um die Harmonie in einer Beziehung zu bewahren.
  6. Desinteresse: In manchen Fällen kann Schweigen darauf hindeuten, dass jemand nicht interessiert oder engagiert ist. Dies könnte auf mangelndes Interesse an einem Gesprächsthema oder an der Kommunikation mit einer bestimmten Person hindeuten.
  7. Mangel an Vertrauen: Ein Mangel an Vertrauen in die Gesprächspartner oder Unsicherheit über die eigene Meinung können dazu führen, dass Menschen schweigen.

Glaubst du jetzt mit diesem Wissen immer noch, dass diese Art der Kommunikation ein Missbrauch ist?

© Daniel Brodersen

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