Immer wieder werde ich von Menschen gefragt, ob ihr Partner oder Vater oder Kind ein Narzisst sei. Ich werde um eine Einschätzung gebeten, am Telefon oder via Email. Sie berichten von Büchern, Youtubevideos und Foren, in denen narzisstisches Verhalten geschildert wird. In diesem Artikel will ich auf die Gefahren eingehen, die davon ausgehen, wenn man sich stets und ständig mit dem Narzissmus der anderen beschäftigt und gleichzeitig meine These begründen: Es ist egal wer oder was er/sie ist. Denn narzisstisch heißt nicht gleich Narzisst.
Differenzialdiagnosen begründen kein narzisstisches Verhalten
Als Kind wussten viele von uns, dass es da draußen Menschen gibt, die wir mögen und jene die wir nicht mögen. Das ist völlig normal. Wir wussten nichts über diese Bezeichnungen, ob man sie Narzissten nannte, Experten, Psychopathen oder Idioten, oder wie auch immer. Viele von uns hatten ein bestimmtes Gefühl, wenn uns jemand begegnet ist. Dem Gefühl haben wir vertraut. Ganz egal wie andere Leute dachten, wir blieben unserer eigenen Wahrnehmung treu und haben unserer Intuition vertraut !!!
Heute liest Du:
- Jemand hat Erfolg= Narzisst
- Jemand gibt die Richtung vor= Narzisst
- Jemand Lügt = Narzisst
- Jemand geht fremd = Narzisst
- Jemand hat gerade Erfolg und steht im Mittelpunkt= Narzisst
Auf einmal ist jedes Verhalten narzisstisch. Da sagt jemand mal etwas, was einem nicht passt, schwupps bekommt dieser eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert ohne, dass es hinterfragt oder differenziert wird.
Besonders tragisch ist das für Menschen, die wirklich mit einem Narzissten zu tun hatten. Die werden am Ende nicht mehr ernst genommen. Eben weil hier dann am Ende ebenfalls keine Differenzialdiagnose mehr gestellt wird.
Differenzialdiagnostik in Kürze:
Als Differenzialdiagnose bezeichnet man die Gesamtheit aller Diagnosen, die alternativ als Erklärung für die erhobenen Symptome (Krankheitszeichen) oder medizinischen Befunde in Betracht zu ziehen sind oder in Betracht gezogen worden sind.
Für Ärzte und Psychologen gibt es dazu eine Menge an Fragebögen, die es auszufüllen gibt, um eine gesicherte Diagnose zu erhalten. Insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen war es mit der ICD-10 ein sehr komplexes Unterfangen zu einer Diagnose zu gelangen, da dies ärztliches Können und Wissen erfordert, weswegen es jetzt in der ICD-11 ein neues Modell gibt um Diagnosen zu erstellen.
Vorsicht mit Ferndiagnosen, Küchenpsychologie und Co.
Wer anfängt sich mit dem Thema Narzissmus bzw. narzisstisches Verhalten zu beschäftigen, gerät in eine Art Wurmloch. Für „Opfer“ von narzisstischem Missbrauch findet sich im Internet dazu auch ein ganzes Psychologiestudium. Youtubevideos, Artikel, Vlogs, Gruppen, Foren, nicht zu vergessen sind Bücher, die es zu diesem Thema gibt. Um dies alles zu sichten, braucht es Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte.
Manch einer richtet sich in seinem Wurmloch ein und macht es sich bequem. Denn wenn man das Verhalten anderer immer mit narzisstischem Verhalten begründen kann, lebt es sich ganz angenehm. Man wird ein bisschen zum ferndiagnostizierenden Küchenpsychologen.
Das hat sicher gute Gründe, die es zu würdigen gillt, jedoch birgt diese ständige Verweilen auch Gefahren. Denn, wenn man überall Narzissten vermutet, stellt sich die Frage, ob es für einen überhaupt noch Menschen gibt, mit denen man eine gute Zeit haben kann. Oder möchtest du nie wieder eine glückliche Beziehung führen?
In der Komfortzone gefangen um ins Wunderland zu gelangen
Ja es gibt typische Muster. Es gibt narzisstisches Verhalten und es gibt Menschen die darunter leiden. Aber das gab es schon immer. Das ist keine Modeerscheinung und vermutlich wird es das auch noch in 100 Jahren geben. Hinzu kommen weitere Label, wie Traumabonding, narzisstische Kollusion, emotionaler Missbrauch, toxische Beziehungen und viele weitere, die du auch auf dieser Website findest.
Für dich sind das viele Informationen, die es zu verarbeiten gilt. Ein bisschen macht das auch süchtig, denn recherchieren und vergleichen, tust du tüchtig und das auch nicht erst seit gestern. Spätestens nachdem du dich getrennt hattest und unter toxischem Liebeskummer gelitten hast, hast du damit angefangen. Manchmal reicht noch weniger dafür aus, als das, was ich gerade beschrieben habe.
Du suchst nach Gründen, für dein Leid und liest was von Narzissten und narzisstischem Verhalten. Boah. ENDLICH bekommt das Kind einen Namen. Und ENDLICH fühlst du dich verstanden, welch Wunder und du genießt erstmal deinen Komfort, den du dort hast. Du glaubst du, seist im Wunderland. Verwundert schaust du dich um.
Bist du bereit zu wachsen oder willst du dich lieber noch eine Weile weiter wundern?
Auch ich stand mal da, wo du jetzt standest. Ich suchte nach einer Erklärung für meine Schmerzen. Ich verortete diese in meiner Kindheit. Ich hielt meine Mutter für eine Narzisstin. Ich sah mich als Mobbingopfer umgeben von Flying Monkeys. Und weil ich so dachte, verhielt ich mich auch so.
Ich gaslightete mich selbst, indem ich stets an meiner Wahrnehmung zweifelte. Gleichzeitig suchte ich im Außen nach Bestätigung, für mein – welch Wunder so verzerrtes Selbstbild. Ich beharrte auf meinem Recht und ließ keinen an mich ran. Ich wunderte mich ebenso häufig über die Reaktionen meines Umfelds, welches – welch Wunder mir spiegelte, wie sie mich wahrnahmen. Und so wollte ich auf keinen Fall sein und schon gar nicht wahrgenommen werden.
Mit Hilfe von co- abhängigem / co- narzisstischem Verhalten aus der Komfortzone
Fakt ist, ja- nicht alles in meiner Biografie ist reibungslos verlaufen. Aber nicht alles war schlecht. Und nicht jeder meinte es so schlecht mit mir, wie ich dachte. Meine Mutter machte Fehler. Mein Umfeld auch. Vielleicht war ich dann auch kurzzeitig deren Opfer – weil ich narzisstisch gekränkt war und dadurch sehr hilflos und ohnmächtig.
Shit Happens!!! Ich machte es ihnen nach. Ich wiederholte ihre Strategien. Ich hab es nicht besser gelernt. Und trotzdem suchte ich im Internet und in Büchern nach Erklärungen für die Reaktionen meines Umfelds. Ich verbrachte noch ein wenig Zeit in meiner eigens errichteten Komfortzone, bevor ich mich trauen konnte, über mich hinaus zu wachsen.
Vermutlich war ich traumatisiert und ganz schlecht darin mich selbst zu regulieren. Also musste ich Begriffe wie „narzisstisches Verhalten“ benutzen, um anderen die Schuld zu geben, für meine bewertenden Gedanken und Gefühle. Dabei hatte ich einfach nur Angst vor mir selbst.
Ich stieß schnell an meine Grenzen. Ich überwand dann meine Schutzwand und erlernte dann echte Empathie. Und zwar die kognitive, die es mir möglich machte, mich abzugrenzen ohne mich gefühlsmäßig anzustecken. Schließlich hatte ich genug mit mir selbst zu tun.
Ich wollte es nicht mehr allen recht machen um geliebt zu werden. Ich wollte mich nicht mehr schlecht fühlen, wenn mir dies nicht gelang. Und ich wollte auch nicht mehr übers Ziel hinaus schießen und mit meinem, nennen wir es mal co- abhängigem Verhalten anecken. Und dies abzulegen lernte ich durch Hilfe von Außen.
Bitte hol dir Professionelle Hilfe, so wie ich es tat
In der Therapie dann wurde ich erhört. ENDLICH. Ich erhielt Antworten. Anfangs war ich mit diesen gar nicht zufrieden. Nicht die anderen sind Narzissten. Und im Grunde genommen ist das auch egal. Und was meine Mutter sagt, spielt keine Rolle. Und mir wurde eine Frage gestellt: Für wen, machen Sie das alles? Und erstmals erkannte ich, mit Hilfe von Profis, worauf es wirklich im Leben ankommt.
Die Welt ist also doch kein Wurmloch, in dem ich gefangen bin. Und ich musste auch nicht ins Wunderland um verstanden zu werden. Ich durfte mich weiter entwickeln. Und das tat ich auch. Ich las Bücher – über die Liebe, das Leben, über Freundschaft, über das innere Kind, über Traumata, über ADHS, über mein Mindset und über Persönlichkeitsentwicklung.
Schritt für Schritt vom Narzissmus zur Selbstliebe
Ich gründete die Narzissmus Selbsthilfe. Ich ließ mich zum Coach ausbilden, besuchte die Heilpraktikerschule. Und ich machte wieder einen Fehler. Ich machte zuviel. Ich beschäftigte mich schlussendlich, in erster Linie mit dem Leid der anderen. Ich machte viele therapeutische Ausbildungen. Und ich machte meine Geschichte zum Thema. Narzissmus. YEAHHH…
Ich grenzte mich zwar einerseits ab, andererseits aber gab es für mehr keinen weiteren Platz. Ich brauchte also eine Pause. Es gibt nämlich auch einen Ausbildungsburnout. Und vor diesem stand ich kurz vor knapp. Ich vernachlässigte meine Freunde. Und ich war wieder sehr dünnhäutig.
Ja, denn auch das beschäftigen mit dem Thema Narzissmus und toxische Beziehungen machte, etwas mit mir. Ich schrieb zig Artikel über Narzissmus und eckte mit meinen teils kontroversen Ansichten an. Und wieder halfen mir Gespräche mit einem Coach.
Narzisst oder narzisstisches Verhalten? Ist mir egal. Mensch bleibt Mensch.
Am Ende erkannte ich schlussendlich, dass es egal ist, was jemand anders ist. Wichtig ist doch nur, wie jemand ist und dass ich mich gut mit der Person unterhalten kann. Ob jemand sich narzisstisch verhält und woran ich das erkenne, ist für mich nicht mehr von Relevanz. Denn ich höre wieder auf meine Intuition.
Deswegen wird es von mir auch niemals einen Artikel geben, wo ich 5 oder 10 Punkte aufzähle, an denen ich festmache, dass ein Mensch sich narzisstisch verhält. Ich werde immer über Verhaltensweisen schreiben und über mögliche Lösungen. Aber ich durchläuchte auch die Gründe dahinter und lass es eben nicht so stehen, dass eine Person abgeschrieben wird oder komplett abgeurteilt. Ich glaube an das Gute im Menschen.
Fun- Facts über Narzissmus bzw. narzisstisches Verhalten
Nun du kannst es co-abhängig nennen, paranoid, antisozial oder eben auch narzisstisch. Lovebombing, Ghosting, Gaslighting und so weiter. Ja, das ist wohl narzisstisches Verhalten. Aber was ist denn narzisstisches Verhalten? Ich meine, Narzissmus heißt ja sowas wie „Streben nach Selbstwert“. Und ich glaube wir alle streben danach irgendwie.
Wir alle möchten uns irgendwie bedeutend fühlen. Und es fühlt sich auch schön an, wenn jemand anders uns sieht, wahrnimmt, anerkennt und bestätigt dass wir eine wundervolle Ausstrahlung besitzen. Glaube ich zumindest. Trotzdem möchte ich zumindest über einen Begriff mal nachdenken, der immer mit Narzissmus bzw. narzisstischem Verhalten in Verbindung gebracht wird. Und dazu habe ich gleich mal eine Frage.
Ist es narzisstisch, wenn man ganz dolle verliebt ist, ganz viel Zeit mit der Person verbringen will, ihr seine Gefühle unbedingt zeigen möchte und ihr dann viele Komplimente oder Geschenke macht? Als Kind war ich auch mal so verliebt, dass ich mich blamierte, weil der Lehrer meinen Liebesbrief kassierte, den ich durchs Klassenzimmer geworfen habe. Du kannst das auch als Lovebombing bezeichnen. Oder eben als verliebt. Wofür entscheidest du dich?
© Daniel Brodersen