Die Erziehung von Kindern ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben im Leben. Jede Generation von Eltern hat das Bestreben, es besser zu machen als die vorherige. Dieses Streben nach Verbesserung ist ein natürlicher Instinkt, da Eltern ihren Kindern ein besseres Leben bieten möchten, frei von den Fehlern und Mängeln, die sie selbst in ihrer Kindheit erlebt haben. Jedoch führt dieses übertriebene besser machen wollen zwangsläufig dazu, dass wir uns im Helfersyndrom wiederfinden statt uns selbst ein guter Freund zu sein.
Die Kindheit wiederholt sich im Erwachsenenalter
Die meisten von uns erinnern sich daran, wie es war, als Kind von unseren Eltern kritisiert, gescholten oder sogar bedroht zu werden. In solchen Momenten schworen wir uns oft, dass wir, wenn wir selbst Eltern werden, niemals diese Fehler wiederholen würden. Diese Schwüre wurden oft mit Überzeugung gefasst, und frischgebackene Eltern starteten mit der festen Absicht, alles anders zu machen.
Doch früher oder später werden diese guten Vorsätze von der Realität überholt. Eltern finden sich in Situationen wieder, in denen sie genau das tun, was sie geschworen hatten, niemals zu tun. Sie beginnen, sich unbewusst wie ihre eigenen Eltern zu verhalten, obwohl sie fest entschlossen waren, es anders zu machen. Dieses Paradoxon kann dazu führen, dass Eltern sich selbst in einer Art „Zeitschleife“ wiederfinden, in der sie die gleichen Muster wiederholen, die sie eigentlich vermeiden wollten.
Der innere Konflikt
Unbewusst verhalten sich Menschen oft wie ihre Eltern, obwohl sie es anders machen wollen. Sie versuchen, die Welt im Außen zu retten, indem sie die besten Eltern, Freunde, Kollegen oder Partner sind. Sie geben sich größte Mühe, ihren Kindern liebevolle Mütter und Väter zu sein und in der Gemeinschaft als freundliche und hilfsbereite Menschen wahrgenommen zu werden. Das Helfersyndrom fängt an Gestalt anzunehmen.
Doch dabei vergessen sie oft, sich selbst die gleiche Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, die sie anderen geben. Sie behandeln ihren eigenen inneren, bedürftigen Anteil genauso, wie sie es von ihren eigenen Eltern erfahren haben. Dieser innere, kindliche Teil sehnt sich nach Zuneigung, Geborgenheit und Aufmerksamkeit, aber er wird vernachlässigt. Dies führt zu einem inneren Konflikt zwischen dem Wunsch, für andere da zu sein, und dem Bedürfnis, sich selbst zu beachten.
Der Ruf des inneren Kindes
Unser inneres Kind versucht uns oft auf diese Diskrepanz aufmerksam zu machen. Es ruft förmlich: „Mama, Papa, ich mache es anders als ihr. Ich schaue auf meine Kinder und bin für sie da.“
Aber gleichzeitig sagen wir oft zu unserem inneren Kind: „Für dich habe ich leider keine Zeit, denn ich habe gelernt, dass Selbstfürsorge und Selbstliebe egoistisch sind.“ Dieser innere Konflikt kann zu Gefühlen von Getriebenheit, Unruhe, Unzufriedenheit, und Unwohlsein führen, selbst wenn wir äußerlich alles richtig zu machen scheinen.
In der Tat ist sich da die Gesellschaft uneinig. Ein Teil denkt: „Die anderen sind wichtiger als ich„, während ein anderer Teil denkt „Ich bin nur für mich selbst verantwortlich, was die anderen daraus machen ist nicht mein Problem“. Ein gesundes Mittelmaß scheint es noch nicht geben zu können, zu sehr könnte sich eine Seite benachteiligt fühlen, während die andere zu hören bekommt: „Du blöder Egoist!“ Für das Kind in uns ist keine dieser beiden Botschaften hilfreich.
Die Falle des Helfersyndroms
Das Helfersyndrom, auch als Messias-Komplex oder Martyrer-Syndrom bezeichnet, ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen einen übermäßigen Drang verspüren, anderen zu helfen, oft auf Kosten ihrer eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Dieses Verhalten kann von außen betrachtet lobenswert erscheinen, kann jedoch zu einer übermäßigen Belastung und Selbstvernachlässigung führen.
Obwohl es keinen einzelnen Urheber für den Begriff „Helfersyndrom“ gibt, wurde das Konzept in der Psychologie und in der Literatur über menschliches Verhalten ausführlich untersucht und analysiert. Verschiedene Psychologen, Therapeuten und Autoren haben dazu beigetragen, das Verständnis für dieses Verhaltensmuster zu vertiefen und darüber zu schreiben. Einige bekannte Namen in diesem Zusammenhang sind Erich Fromm, Alice Miller und Wayne Dyer, die in ihren Arbeiten auf ähnliche Themen eingegangen sind und auf die psychologischen Hintergründe von übermäßigem Helfen und Opfern eingegangen sind. Es wird sogar vom Mutter-Theresa Narzissmus gesprochen.
Menschen in helfenden Berufen sind besonders gefährdet, in diese Falle zu geraten. Sie setzen sich selbst oft stark unter Druck, um anderen zu helfen und alles besser zu machen. Dabei vernachlässigen sie ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Dies führt nicht nur zu Erschöpfung und Frustration, sondern auch zu körperlichen Beschwerden und psychischen Belastungen.
Das innere Kind und das Helfersyndrom
Das innere Kind ist ein Konzept aus der Psychologie, das aufzeigt, wie unsere Kindheitserfahrungen unser Verhalten und unsere Emotionen im Erwachsenenalter beeinflussen. Jeder von uns trägt ein inneres Kind in sich, das Bedürfnisse nach Liebe, Sicherheit und Aufmerksamkeit hat. Wenn diese Bedürfnisse in der Kindheit nicht ausreichend erfüllt wurden, kann das innere Kind in uns verletzt oder vernachlässigt sein.
Das Helfersyndrom ist eng mit dem inneren Kind verbunden, da Menschen mit einem ausgeprägten Helferinstinkt oft versuchen, die Liebe, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten, die sie als Kinder vermisst haben. Sie setzen sich selbst aufopfernd für andere ein, in der Hoffnung, diese Bedürfnisse auf indirekte Weise zu erfüllen. Die Erfüllung der Bedürfnisse des inneren Kindes kann ein mächtiger Antrieb für das Helfersyndrom sein.
Beispiel 1: Die überengagierte Mutter
Stellen Sie sich eine Mutter vor, die sich ständig überfordert fühlt, weil sie versucht, die perfekte Mutter für ihre Kinder zu sein. Sie opfert ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen auf, um sicherzustellen, dass ihre Kinder alles haben, was sie brauchen. Sie fährt die Kinder zu unzähligen Aktivitäten, organisiert perfekte Geburtstagsfeiern und kümmert sich um ihre schulischen Belange, als ob es um Leben und Tod ginge.
Im Kern dieses Verhaltens liegt oft das innere Kind dieser Mutter, das sich nach Liebe und Anerkennung sehnt. Möglicherweise hat sie in ihrer eigenen Kindheit nicht genug Aufmerksamkeit erhalten oder fühlte sich vernachlässigt. Indem sie nun alles für ihre eigenen Kinder tut, versucht sie, die Liebe und Anerkennung zu erhalten, die sie selbst vermisst hat. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigt und sich immer mehr überfordert fühlt.
Wenn du dich wieder erkennst: Willst du dass deine Kinder mit diesem Vorbild aufwachsen?
Beispiel 2: Der überengagierte Arbeitskollege
Ein weiteres Beispiel für das Helfersyndrom ist der überengagierte Arbeitskollege, der immer bereit ist, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und Überstunden zu machen, um anderen zu helfen. Er fühlt sich oft verpflichtet, die Probleme seiner Kollegen zu lösen und ihre Arbeit zu erledigen, selbst wenn es nicht seine Aufgabe ist.
Im Hintergrund dieses Verhaltens steht möglicherweise das innere Kind dieses Kollegen, das sich nach Anerkennung und Wertschätzung sehnt. Vielleicht hat er in seiner Kindheit nicht genug Lob oder Bestätigung erhalten und versucht nun, diese Lücke zu füllen, indem er sich als unverzichtbar für das Team sieht. Dies kann zu einem Burnout führen, da er seine eigenen Grenzen ignoriert und sich selbst überfordert.
Wenn du dich wieder findest: Wie lang noch will du so mit dir selbst umgehen?
Beispiel 3: Die rettende Freundin
Ein drittes Beispiel für das Helfersyndrom ist die Freundin, die immer für andere da ist, um ihre Probleme zu lösen. Sie hört geduldig zu, gibt Ratschläge und opfert ihre Zeit und Energie, um ihren Freunden zu helfen. Dabei vernachlässigt sie oft ihre eigenen Bedürfnisse und fühlt sich manchmal ausgenutzt.
Hier liegt möglicherweise das innere Kind dieser Freundin zugrunde, das sich nach Zugehörigkeit und Akzeptanz sehnt. Wenn sie anderen hilft, fühlt sie sich gebraucht und wichtig. Dies kann dazu führen, dass sie sich übermäßig verantwortlich fühlt und sich selbst hintenanstellt, um die Bedürfnisse anderer zu erfüllen.
Wenn du dich wiederfindest: Wann fängst du bei dir selber an?
Das Helfersyndrom in sozialen Berufen
In der Welt der psychologischen und sozialen Phänomene ist das Helfersyndrom ein weitverbreitetes, aber oft missverstandenes Konzept. Menschen mit einem starken Helferinstinkt sind oft bereit, anderen in Not zu helfen und sich selbst hintenanzustellen. Doch hinter dieser Selbstlosigkeit verbirgt sich oft ein tief verwurzeltes Muster, das auf die Bedürfnisse des inneren Kindes zurückzuführen ist.
In sozialen Berufen, wie beispielsweise in der Sozialarbeit, Pflege, Therapie, oder im Bildungsbereich, ist das Helfersyndrom besonders ausgeprägt. Hier sind einige Wege, wie es sich in diesen Berufen äußern kann:
1. Überengagement für Klienten oder Patienten: Helferinnen und Helfer in sozialen Berufen neigen dazu, über das Maß hinauszugehen, um ihren Klienten oder Patienten zu helfen. Sie arbeiten oft Überstunden, nehmen zusätzliche Verantwortung auf sich und setzen ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen außer Acht.
2. Überidentifikation: Soziale Berufstätige mit einem Helfersyndrom können sich stark mit den Herausforderungen und Problemen ihrer Klienten oder Patienten identifizieren. Dies kann dazu führen, dass sie deren emotionale Belastung übernehmen und selbst unter Stress und Angst leiden. Als Folge entsteht häufig ein Mangel an Empathie.
3. Selbstlosigkeit: Menschen mit einem Helfersyndrom in sozialen Berufen haben oft Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen und ihre eigenen Bedürfnisse zu priorisieren. Sie setzen die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen und vernachlässigen dadurch ihre eigene Gesundheit und Wohlbefinden. Hier sind auch Männer mit Helfersyndrom anzutreffen und nicht nur Frauen, wie oft angenommen.
4. Angst vor Versagen: Helferinnen und Helfer in sozialen Berufen haben oft eine tiefe Angst vor dem Versagen oder der Enttäuschung ihrer Klienten oder Patienten. Sie setzen sich selbst unter enormen Druck, um perfekte Ergebnisse zu erzielen, was zu Stress, Angststörungen und Burnout führen kann.
5. Unrealistische Erwartungen: Menschen mit einem Helfersyndrom setzen sich oft unrealistische Erwartungen, wie sie anderen helfen können. Sie glauben, dass sie die Welt retten oder alle Probleme lösen müssen, was zu Enttäuschung und Frustration führen kann, wenn dies nicht gelingt.
Das Helfersyndrom überwinden und Umgang mit dem inneren Kind
Der Schlüssel zur Bewältigung des Helfersyndroms liegt darin, sich der Bedürfnisse des inneren Kindes bewusst zu werden und diese auf gesunde Weise zu erfüllen. Dies kann durch Selbstfürsorge, Achtsamkeit und das Setzen von Grenzen erreicht werden.
Erkenne an, dass es nicht egoistisch ist, sich selbst zu kümmern und die eigenen Bedürfnisse zu priorisieren. Nur wenn wir uns selbst Gutes tun, können wir auch für andere da sein, ohne uns selbst zu erschöpfen oder das Gefühl zu entwickeln von anderen ausgenutzt zu werden. Das innere Kind verdient ebenso viel Liebe und Aufmerksamkeit wie die Menschen um uns herum.
Hilfst du deinem inneren Kind, hilft es auch den anderen
Wenn wir lernen, auf die Bedürfnisse unseres inneren Kindes zu achten und es zu lieben, belohnen wir uns selbst auf die beste Art und Weise. Dies kann dazu führen, dass langjährige Beschwerden und unangenehme Gefühle verschwinden, da unser Körper und unsere Psyche nicht mehr mit Symptomen darauf hinweisen müssen, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Die Botschaft lautet also: Sei für dich selbst da, damit du für andere da sein kannst. Selbstfürsorge und die Liebe zu deinem inneren Kind sind der Schlüssel zu einem erfüllten und freudigen Leben, in dem du deine eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer in Einklang bringen kannst. Und das Beste daran ist, dass du so mehr für andere leisten kannst, da du aus einer inneren Freude heraus handelst und in deiner Kraft bleibst.
© Daniel Brodersen